// Mehr als ein Understatement

// Atelier ST, Leipzig

Göttingen fehlte ein Ort für zeitgenössische Kunst. Seit 2021 ragt nun das neue Kunsthaus eingekeilt zwischen geschichtsträchtigen Fachwerkhäusern wie selbstverständlich in die Höhe. Für die gelungene Umsetzung brauchte es neben der treibenden Kraft eines passionierten Verlegers kreative Köpfe, die mit der Baulücke geschickt umzugehen wussten.

Lange war das kleine Grundstück in der Düsteren Straße im ehemaligen Färberviertel Göttingens unbebaut. In enger Zusammenarbeit mit der Stadt als Auftraggeberin und dem renommierten Verleger Gerhard Steidl, der schon seit 50 Jahren für ein Kunsthaus kämpfte, realisierte das Architekturbüro Atelier ST aus Leipzig das ersehnte Gebäude.

// Sensibler Einschub

Die Aufgabe war herausfordernd. In der Altstadt der Universitätsstadt sollte ein zeitgemäßes Kunsthaus von internationaler Bedeutung entstehen – modern, ohne ein Fremdkörper im mittelalterlich geprägten Umfeld zu sein, charakterstark, aber ohne aufzutrumpfen. Zur Verortung im historischen Kontext kamen Anforderungen des Denkmalschutzes. All dies hatte das Team von Atelier ST bei seinem Entwurf im Blick, der die Jury beim Wettbewerb im Jahr 2016 überzeugte. Die beengte Parzelle befindet sich in illustrer Nachbarschaft. Das angrenzende Haus links hat seine Ursprünge im 16. Jahrhundert, das rechts im Jahr 1307. Steidl hat in diesem das Günter-Grass-Archiv untergebracht, auch sein eigener Verlag ist in der Straße beheimatet. Um die Nachbargebäude nicht zu gefährden, entschieden sich Silvia Schellenberg-Thaut und Sebastian Thaut, die Gründer des Büros, für eine Bohrpfahlgründung. Ein positiver Nebeneffekt war, dass sie alle Räume mit Nebenfunktionen in den Keller verlagern und sich mit den anderen Etagen der Ausstellungsfläche widmen konnten.

In der Düstere Straße hingen einst die Färber ihre Tücher zum Trocknen auf und verdunkelten dadurch den Straßenraum. Der tageslichtdurchflutete Raum unter dem Spitzdach bietet Platz für Veranstaltungen.
// Raumwunder mit Spitzdach

Formal orientierte man sich an den umliegenden historischen Häusern. Regionaltypische Merkmale wie Steildach und vorspringende Geschosse wurden aufgegriffen und in die Gegenwart übersetzt. Das Resultat ist ein fünfgeschossiges sandfarbenes Gebäude mit Spitzdach, bei dem sich mit jeder Etage die Grundfläche von 239 m2 durch Auskragungen um einige Quadratmeter vergrößert. So gelang es, auf drei Ebenen eine Ausstellungsfläche von insgesamt 534 m2 zu schaffen. Im Dachgeschoss, dessen First die umliegenden Häuser überragt, ohne sie zu dominieren, befindet sich ein Vortragsraum. Der auf den ersten Blick verschlossen wirkende Baukörper erweist sich innen als offen und großzügig. Die Stahlbetonkonstruktion ermöglicht hohe, nahezu stützlose Räume, die mit Kunstlicht bespielt werden. Das Dachgeschoss dagegen zeigt sich mit seiner raumbreiten Schiebeverglasung zur Dachterrasse lichtdurchflutet.

// Von Papier inspiriert

Bei der Gestaltung der Fassade ließ sich das Leipziger Architektenpaar durch die Haptik und Struktur von Papier inspirieren. Im Steidl-Verlag hätten vor allem die riesigen Papierblöcke mit ihren unterschiedlichen Schichtungen fasziniert, so Sebastian Thaut. Der sandfarbene Kammzugputz verweist auf diese Papierschichten und nimmt zugleich auf die Ausstellungen im Innenraum Bezug, deren Fokus auf Papierkunst liegt. Seit seiner Eröffnung nach einer zweijährigen Bauzeit erfährt das Kunsthaus viel positive Resonanz. Es schließt nicht nur eine Baulücke im kleinteiligen Gefüge der Altstadt stimmig und bietet moderner Kunst einen Ort, es ist auch Impulsgeber für das neu entstehende Kunstquartier „KuQua“ im historischen Färberviertel, das zukünftig über Niedersachsen hinaus strahlen soll.

Bildnachweise: Annika Bauer (1); Simone Boss

// Artikel Teilen